Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

nicht nur Mediziner haben herausgefunden: das gesündeste – und längste – Leben lebt sich im Mittelmaß. Nicht zu viel Sport, nicht zu wenig. Nicht zu viel Schlaf, nicht zu wenig. Nicht zu viel trinken, nicht zu wenig. Klingt nicht besonders spannend. Das dachten sich wohl auch viele Wirtschaftskapitäne und Manager und setzten auf Wachstum um jeden Preis. Und wenn das durch mühsame Absatzsteigerung nicht erreichbar war, dann wurde halt auf- und zugekauft: Übernahmen und Fusionen waren ganz oben auf der Tagesordnung und Kennzeichen für modernes Management. Oft finanziert auf Pump. Gefährliche Aktionen. Mitunter war der Kitzel sicher groß! Mittlerweile verwundert das Streben nach purer Größe nur noch. Wir alle kennen die gescheiterten, teils größenwahnsinnigen Fusionen. Wir alle kennen das Schicksal der Dinosaurier. Wenn Unternehmen eine Größe erreicht haben – die in den derzeitigen Krisenzeiten gerne als 'systemrelevant' umschrieben wird – die ein Scheitern nicht mehr zulässt, wird der Spruch von 'too big to fail' bittere Realität von Rettungsplänen. Das Darwinsche Prinzip 'survival of the fittest' verkehrt sich in sein Gegenteil: 'survival of the fattest.'

Die Natur agiert anders. Pure Größe ist selten. Small is Beautiful: viele spezialisierte Wesen, die ihrem Lebensraum und den Umweltbedingungen optimal entsprechen und sich bei Veränderung erstaunlich schnell anpassen können. Ohne fremde Hilfe, ohne zentrale Steuerung. Waren und sind seit Beginn der Industrialisierung standardisierte Produkte und Massenproduktion das Ziel der Wahl (weil günstiger herzustellen und damit für viele erschwinglich) und waren große Unternehmen mithin sinnvoll, findet auch hier ein Paradigmenwechsel statt. 'Customizing' ist nicht mehr nur ein Wort des Marketings, um einfache Farb- oder Ausstattungsvarianten anzupreisen. Echtes Customizing wird möglich durch geänderte, sehr viel flexiblere Produktionsverfahren und -prozesse, die nun auch Klein- und Kleinstserien zu angemessenen Kosten möglich machen. Dadurch wird der individuelle Kundenwunsch besser erfüllbar, der Mensch rückt ins Zentrum von Produktentwicklung und Innovation. Aber Achtung: zu viel ist auch hier schädlich. Ein Übermaß an Individualisierung raubt Produkten die Identität. Identität jedoch ist wichtiger Bestandteil von Kaufentscheidungen. Marken und ihr Versprechen, Image und Erwartung, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe – das alles lässt sich nur mit Identität erzeugen. Ähnlichkeit oder Gleichheit wird erwünscht bleiben. Erneut gilt das Mittelmaßgesetz.

Es ist nicht verwerflich, wenn unternehmerisches Handeln sich nicht nur an Umsatz und schnellem Gewinn orientiert. Kundenzufriedenheit, Umweltverträglichkeit, Sicherheit und Motivation der Mitarbeiter, Qualität und Haltbarkeit der Produkte, guter Service und ein menschliches Miteinander: alles lohnenswerte Ziele unternehmerischen Schaffens. Die Werte dürfen neu gemischt werden, jetzt ist die beste Zeit dafür. Neugierig statt gierig, besonnen statt berauscht, empathisch statt arrogant, echt statt spekulativ, verantwortungsvoll statt egoistisch. Die Grundlagen für langfristig erfolgreichen Mittelstand. Langweilig? Vielleicht. Aber gesund!

Professor Dipl.-Des. (FH) Detlef Rahe, MFA

Kontakt

Professor Dipl.-Des. (FH) Detlef Rahe, MFA ist Leiter des Steinbeis-Transferzentrums i/i/d Institut für Integriertes Design in Bremen. Lesen Sie wie er und sein Team Innovationsvorhaben frühzeitig durch nutzerorientierte Gestaltung unterstützen: „Friend“ assistiert, wo er kann

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