Corporate Vocational University: Harmonisierung der Facharbeiterqualifikation in multinationalen Produktionsunternehmen

Forschung an der Steinbeis-Hochschule Berlin

Für multinationale Produktionsunternehmen mit Fertigungsstandorten in allen Regionen der Erde ist die weltweite Verfügbarkeit von qualifizierten Facharbeitern ein kritischer Erfolgsfaktor. Zwar sind neueste Fertigungstechnologien heute an allen Standorten verfügbar, woran es jedoch in vielen Ländern mangelt, sind gut qualifizierte Fachkräfte, die in der Lage sind, moderne Produktionsanlagen zu bedienen und effizient zu nutzen. Nicht alle nationalen Berufsbildungssysteme sind in der Lage, die Anforderungen von Unternehmen nach international vergleichbaren Ausbildungsstandards zu erfüllen. Deshalb müssen Unternehmen über Lösungen nachdenken, die jenseits von staatlich und institutionell geprägten Modellvorstellungen liegen. Thomas Eichberger beschäftigt sich im Rahmen seiner Promotion an der Steinbeis-Hochschule Berlin mit der Bedeutung der weltweiten Verfügbarkeit von vergleichbar gut qualifizierten Facharbeitern für multinationale Produktionsunternehmen.

In einer empirischen Studie untersuchte Thomas Eichberger die Anforderungen von Unternehmen und potenziellen Ausbildungsaspiranten an die Facharbeiterausbildung und entwickelte aus den gewonnenen Erkenntnissen ein Konzept für die betriebsinterne Facharbeiterausbildung in Form einer „Corporate Vocational University“.

Produktivität, Qualität, Kosten, Flexibilität oder Innovation sind typische Schlagworte, die heute zum Standardrepertoire eines jeden Produktionsverantwortlichen gehören. Die zunehmende Globalisierung, immer kürzere Produktlebenszyklen, bei gleichzeitiger Zunahme der Variantenvielfalt und insgesamt kleiner werdenden Produktionslosgrößen sind Herausforderungen, denen sich Unternehmen stellen müssen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Für multinationale Produktionsunternehmen hat die Produktionsstrategie innerhalb der Gesamtunternehmensstrategie einen besonders hohen Stellenwert. Unternehmen versuchen, ihre weltweiten Fertigungsstandorte möglichst effizient zu vernetzen, um so Synergien nutzen zu können. Denn im Gegensatz zu Produkten lässt sich Produktions-Know-how nicht so einfach von Wettbewerbern kopieren und stellt damit einen Wettbewerbsvorteil dar.

Ein Kriterium bei der Auswahl von Produktionsstandorten sind die Lohnkosten. Der Lohnkostenunterschied zwischen den Industriestaaten und den sogenannten Billiglohnländern wird jedoch zunehmend geringer. Auch die Kundenanforderungen haben sich verändert. So fordern Kunden selbst bei Konsumgütern, die in Millionenauflage produziert werden, höchste Qualität bei geringstmöglichen Preisen und maximaler Flexibilität. Um den genannten Anforderungen gerecht zu werden, wird oft versucht, neueste Produktionstechnologien mit einem hohen Automatisierungsgrad einzusetzen. Maschinen und Prozesse können in Asien, den USA, Lateinamerika und Europa vergleichbar bereitgestellt werden. Der Unterschied liegt jedoch in der Effektivität und Effizienz bei deren Nutzung – also letztendlich in der Qualifikation des Bedienpersonals. Für eine automatisierte Fertigung wird zwar vergleichsweise weniger Personal benötigt, dieses muss jedoch in der Lage sein, die immer komplexer werdende Technik zu bedienen und zu beherrschen. Hierzu benötigen Unternehmen weltweit ausreichend und gut qualifizierte Fachkräfte insbesondere im gewerblichen, produktionsnahen Umfeld. Beim Management begegnen sich die Führungsriegen internationaler Konzerne längst auf Augenhöhe. Ganz anders sieht es jedoch auf der Ebene der Facharbeiter aus. Die Kompetenzunterschiede der für vergleichbare Tätigkeiten eingesetzten Arbeitskräfte an den verschiedenen Produktionsstandorten sind mitunter erheblich. Diese Situation ist ein Ergebnis der weltweit sehr unterschiedlichen Berufsbildungssysteme. Multinationale Produktionsunternehmen wünschen sich jedoch weltweit ein möglichst harmonisiertes Kompetenzniveau an allen Produktionsstandorten.

Thomas Eichbergers empirische Untersuchung befasst sich mit drei Hauptfragen: Wie wird die Bedeutung der weltweiten Verfügbarkeit von Facharbeitern insbesondere für die globale Produktionsstrategie von Unternehmen eingeschätzt? Welche Anforderungen stellen multinationale Produktionsunternehmen und potenzielle Ausbildungsaspiranten an ein betriebsinternes Ausbildungskonzept für Facharbeiter? Und wie muss ein solches Konzept in Form einer „Corporate Vocational University“ konkret ausgestaltet sein, um den Anforderungen der Zielgruppen zu entsprechen?

Der Facharbeiterqualifikation wird von den Unternehmen durchweg eine hohe Bedeutung für den Unternehmenserfolg bescheinigt. Das Untersuchungsergebnis zeigt, dass für 87% der befragten Unternehmen die aktuellen Berufsbildungssysteme nicht vollständig geeignet sind, um deren weltweiten Bedarf an Facharbeitern zu decken. Für 69% der Unternehmensexperten hat dies einen Einfluss auf die Umsetzung der globalen Produktionsstrategie. Interessant ist auch die Erkenntnis, dass 60% der Unternehmensexperten die Bezahlung und den sozialen Status von gewerblichen Facharbeitern im Unternehmen als nicht angemessen bewerten.

Unternehmen fordern von einem betriebsinternen Ausbildungskonzept die Förderung der sozialen und interkulturellen Kompetenz der Auszubildenden. Potenzielle Ausbildungsaspiranten wünschen sich von Beginn der Ausbildung an transparente Entwicklungsperspektiven und eine höhere Wertschätzung ihrer Ausbildung gegenüber akademischen Abschlüssen. Von besonderem Interesse ist es zu erforschen, welche Wirkung unterschiedlich ausgeprägte Ausgestaltungsmerkmale auf die Präferenzen von Unternehmensexperten und Facharbeitern für ein Ausbildungskonzept haben. Hierzu wurden zunächst im Rahmen einer Vorstudie Interviews und Gruppendiskussionen mit Experten aus multinationalen Unternehmen und Auszubildenden geführt. Die Hauptstudie wurde als Online-Expertenbefragung in Form eines Discrete-Choice- Experiments (DCE) durchgeführt. Hierbei wurden Unternehmensexperten sowie Facharbeiter aus Deutschland und den USA befragt. Den Probanden wurden jeweils Paarvergleiche in verschiedenen Ausprägungskombinationen zur Auswahl gestellt. Insgesamt wurden 477 Datensätze ausgewertet. Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass Unternehmen wie auch potenzielle Ausbildungsaspiranten großen Wert auf ein Ausbildungsspektrum legen, das mehrere Qualifikationslevels beinhaltet und zusätzliche, nicht fachspezifische Lerninhalte berücksichtigt. Bei der Vermittlung der Lerninhalte wird von beiden Zielgruppen mehr Flexibilität in Form von zusätzlichen Angeboten präferiert.

Aus den Ergebnissen der empirischen Studie konnten bislang die Anforderungen von Unternehmen und potenziellen Ausbildungsaspiranten abgeleitet und der Einfluss einzelner Merkmalsausprägungen eines Ausbildungskonzeptes auf deren Präferenzen ermittelt werden. Das daraus entwickelte Musterausbildungskonzept „Corporate Vocational University“ beinhaltet die sechs Komponenten Grundstruktur und Ausbildungsspektrum, Curriculum Design, Lehr- und Lernmethoden, Prüfungsund Zertifizierungskonzept, Organisationsstruktur und Geschäftsmodell. Das Curriculum Design basiert auf dem Leitprinzip einer „Ausbildungstriade“, die die Ausbildungsbereiche „Praxis“, „Theorie“ und „Soziales“ in einen gleichrangigen Kontext stellt. Weitere leitende Prinzipien einer „Corporate Vocational University“ sind neutrale Abschlussbezeichnungen wie „Operator“, „Specialist“ und „Expert“ sowie von Beginn der Ausbildung an transparente, horizontale und vertikale Entwicklungspfade. Ob sich das Modell im Wettbewerb der Bildungssysteme um Talente und insbesondere gegenüber den traditionellen Berufsbildungssystemen etablieren kann, ist im Rahmen einer anschließenden mehrjährigen Fallstudie zu prüfen. Das Forschungsprojekt wird aktuell finalisiert und beinhaltet die Kernelemente einer „Corporate Vocational University“ als eine Handlungsempfehlung für Unternehmen, die über eine globale, betriebseigene Facharbeiterausbildung nachdenken.

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