Der Fahrzeugspiegel war einmal

Kamera-Monitor-Systeme ermöglichen digitale Spiegel nach ISO 16505

In heutigen Fahrzeugen sind Einrichtungen für die indirekte Sicht gesetzlich vorgeschrieben. Diese indirekte Sicht wird durch konventionelle Spiegel, die an den Fahrzeugen angebracht sind, realisiert. Der neue Standard ISO 16505 beschreibt die technischen Anforderungen für den Ersatz von Spiegeln durch Kamera-Monitor-Systeme. Das Steinbeis-Transferzentrum DSI – Digitale Systeme und Innovationen war an der Entstehung dieser Norm beteiligt und bietet Beratungen, Schulungen sowie prototypische Realisierungen und Messtechnik rund um dieses Thema an.

Der neue internationale Standard ISO 16505 „Ergonomic and performance aspects of Camera-Monitor Systems“ beschreibt die technischen Mindestanforderungen, die ein digitaler Spiegel bzw. ein Kamera-Monitor- System (KMS) erfüllen muss. Sie betreffen die Sicherheitsaspekte, die Ergonomieaspekte, die Leistungsfähigkeit und die Testverfahren für derartige Kamera-Monitor-Systeme. Der neue Standard bildet eine Basis für einen normgerechten Systementwurf und die normgerechte Systemprüfung durch die technischen Dienste.

In der aktuellen technischen Entwicklung von modernen Fahrerassistenzsystemen haben verschiedene Kamerasysteme in Serienfahrzeuge Einzug erhalten. Dabei reichen die Funktionen von einfachen Rückfahrkameras über komplexe 360°-Rundumsichtsysteme bis hin zu Nachtsichtassistenten inklusive Objekterkennung und Sensorfusion. Solche Seriensysteme können in der Regel als nicht gesetzlich vorgeschriebene Komfort- bzw. Assistenzsysteme eingestuft werden. Der ISO 16505 Standard beschreibt allerdings Kamera-Monitor-Systeme, die gesetzlich vorgeschriebene Systeme ersetzen sollen. Dabei handelt es sich um die gesetzlich vorgeschriebenen Einrichtungen zur Ermöglichung einer indirekten Sicht, wie sie in heutigen Fahrzeugen durch konventionelle Spiegel üblich sind.

Die Automobilindustrie arbeitet daran die Anforderungen zur Minderung der CO2-Emissionen bei neuen Fahrzeugen zu erfüllen. Einen wesentlichen Stellenwert wird der Gewichtsreduktion sowie der Reduktion des Luftwiderstandes beigemessen. Die Gesamtfahrzeugbetrachtung fasst dabei verschiedene Maßnahmen zu optimierten Fahrzeugkonzepten zusammen. Eine dieser Maßnahmen zur Verbesserung der Aerodynamik ist der Verzicht auf die Außenrückspiegel. Dies ist zwar nicht neu, es gab aber bisher keinen internationalen rechtlichen Rahmen für einen Einsatz in Großserienfahrzeugen. Bereits 1996 verfügte das Mercedes- Benz Forschungsfahrzeug F200 über ein für die damalige Zeit sehr zukunftsweisendes Kamera-Monitor-Konzept statt Außenrückspiegel. In den letzten Jahren wurden von verschiedenen Fahrzeugherstellern Konzeptfahrzeuge entwickelt, die mit Kamera-Monitor-Systemen ausgestattet sind. Der Volkswagen XL1 wird bereits als Kleinserie produziert und erreicht einen minimalen Verbrauch durch die Umsetzung von verschiedenen Maßnahmen zu einem optimierten Gesamtfahrzeugkonzept. Sein Konzept beinhaltet ein KMS statt Außenrückspiegel. Der Fahrzyklus bei großen Nutzfahrzeugen führt dazu, dass diese besonders von der beschriebenen Spiegel-Ersatz-Maßnahme profitieren können. Das Konzeptfahrzeug Mercedes-Benz Future Truck 2025 zeigt eine Realisierungsmöglichkeit für große Nutzfahrzeuge. Auch bei derartigen Fahrzeugen ist das Spiegel-Ersatz-System eine von mehreren Maßnahmen, die kombiniert eingesetzt die CO2-Emissionen optimieren.

Der Standard ISO 16505 alleine stellt für derartige Spiegel-Ersatz-Systeme noch keinen rechtlich verbindlichen Rahmen dar. In der Bundesrepublik Deutschland gilt für die Systeme zur Ermöglichung einer indirekten Sicht die UN/ECE-Regelung Nr. 46 in ihrer jeweils gültigen Fassung. Kraftfahrzeuge erhalten eine Betriebserlaubnis, wenn sie gesetzlich vorgeschriebene technische Mindestanforderungen erfüllen. Bei der UN/ ECE-Regelung Nr. 46 handelt es sich um eine Regelung der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UN/ECE), ECE steht für Economic Commission for Europe. Innerhalb der UN/ECE ist das „Weltforum für die Harmonisierung von Fahrzeugtechnischen Vorschriften“, kurz UN/ECE WP.29, organisiert. Im Jahr 2009 starteten diese Gremien eine Initiative zur Neufassung der UN/ECE-Regelung Nr. 46, um Kamera- Monitor-Systeme als Spiegel-Ersatz zu ermöglichen. Um die technischen Inhalte zu definieren, wurde aus diesen Gremien heraus die Informal Group on Camera Monitoring Systems (IGCMS) initiiert. Eines der Ergebnisse der IGCMS war eine Normungs-Initiative zu diesen Systemen im Expertenrahmen der International Organization for Standardization (ISO). Dieser Normungsinitiative ging die Erkenntnis voraus, dass es sich bei dieser Technologie um ein sehr komplexes Thema handelt. Die Arbeiten an der ISO 16505 erfolgten zwischen 2010 und 2014. Eine IGCMS II erarbeitet auf Basis der ISO 16505 die Inhalte für eine Neufassung der UN/ECE-Regelung Nr. 46, die die Realisierung der vorgeschriebenen Systeme zur indirekten Sicht durch Kamera-Monitor-Systeme erlauben wird. Mit Abschluss dieser Standardisierungs- und Regulierungsaktivitäten wird der Einsatz von KMS für Großserienfahrzeuge, nach heutigem Zeitplan, nach 2016 ermöglicht. Der dadurch geschaffene internationale rechtliche Rahmen besteht aus einer Kombination von normativen und regulatorischen Vorgaben. Da nicht alle Länder außerhalb der EU die UN/ECE-Regelung Nr. 46 anwenden, muss trotzdem länderspezifisch die Zulassungsfähigkeit im Einzelfall bewertet werden. Das Steinbeis-Transferzentrum DSI - Digitale Systeme und Innovationen hat an den technischen Inhalten dieser genannten Aktivitäten mitgewirkt.

Durch den Ersatz der konventionellen Außenrückspiegel durch digitale Spiegel ergeben sich verschiedene Verbesserungspotenziale. Wie bereits erwähnt, führt die Optimierung der Aerodynamik zu einer möglichen Reduzierung der CO2-Emissionen. Die Reduzierung ist abhängig vom Fahrzyklus sowie vom Gesamtkonzept. Der Automobilzulieferer FICOSA gab in einer Veröffentlichung eine Reduzierung der CO2-Emissionen der Größenordnung von 1 bis 2% bei Nutzfahrzeugen an. Bei Elektrofahrzeugen kann die Reichweite und bei Sportwagen die Höchstgeschwindigkeit erhöht werden. Gerade im Premiumsegment kann durch diese Maßnahme auch die Aeroakustik für die Insassen erlebbar verbessert werden. Ein wesentlicher Sicherheitsaspekt ist, dass durch ein KMS ein optimiertes Sichtfeld angezeigt werden kann. Die in der UN/ECE-Regelung Nr. 46 vorgeschriebenen Sichtfelder beginnen beispielsweise beim PKW (Gruppe III Hauptaußenrückspiegel) links und rechts 4 m hinter dem Augenpunkt des Fahrers. Somit können Sichtschatten („tote Winkel“) entstehen, die aber durch ein KMS mit entsprechendem Öffnungswinkel der Kamera mit erfasst und angezeigt werden können. Auch ist es technisch möglich, situativ die Anzeige optimiert zu variieren. So können mittels Bildverarbeitungs-Algorithmen auch gefährliche Objekte, wie sich schnell nähernde Fahrzeuge, erkannt werden und der Fahrer kann rechtzeitig gewarnt werden. Somit kann ein KMS die Basis-Technologie für die Entwicklung weiterer Fahrerassistenzsysteme bilden. Bei einem konventionellen Spiegel kann durch eine Kopfbewegung die indirekte Sicht bei Bedarf variiert werden, was zu einem erhöhten Bewegungsbedarf führt. Die Anzeige eines optimierten Sichtfeldes in Kombination mit ergonomisch vorteilhaften Display-Positionen kann diesen Bewegungsbedarf reduzieren. Bei konventionellen Spiegeln tritt auch die Situation ein, bei der der Fahrer durch die Sonne oder durch die Scheinwerfer von Folgefahrzeugen geblendet wird. Diese Blend-Effekte können durch Kamera-Monitor-Systeme deutlich reduziert werden.

Der Standard ISO 16505 definiert die technischen Mindestanforderungen an ein KMS. Die anzuzeigenden Mindest-Sichtfelder entsprechen den Vorgaben der UN/ECE-Regelung Nr. 46. Ein systembedingter Vorteil eines Spiegels gegenüber einem KMS ist die Echtzeitfähigkeit. Durch die Verarbeitungskette, bestehend aus Kamera, Datenübertragung, Signalverarbeitung und Anzeige, ergeben sich Verzögerungen. Die ISO 16505 verlangt eine komplette System-Latenzzeit von < 200 ms und eine Bildwiederholrate von mindestens 30 Hz (mindestens 15 Hz bei Nacht). Bei den Auflösungsanforderungen des Systems beschreibt die ISO 16505 einen Vorgang, der die Kamera- und Display-Postionen sowie die gesetzlich vorgeschriebene Sehschärfe des Fahrers berücksichtigt. Als Bewertungsmaß für die Auflösung wird eine Modulationsübertragungsfunktion (MTF, Modulation Transfer Function) herangezogen. Für alle Anforderungen werden auch die entsprechenden normgerechten Testverfahren beschrieben. Da es sich bei einem Kamera-Monitor-System um elektronische sicherheitsrelevante Funktionen handelt, wird von der ISO 16505 für den Systementwurf die Anwendung der in der ISO 26262 beschriebenen Prozesse verlangt.

Die Bundesanstalt für Straßenwesen hat im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur eine Untersuchung durchgeführt, bei der Kamera-Monitor-Systeme und konventionelle Spiegel vergleichend betrachtet wurden. Ein Schwerpunkt der Studie bilden die Aspekte der Mensch-Maschine-Interaktion. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass es grundsätzlich möglich ist KMS für die indirekte Sicht bei PKW und LKW einzusetzen (Final Report vom 22.01.2015).

Kontakt

Professor Dr.-Ing. Anestis Terzis ist Leiter des Steinbeis-Transferzentrums DSI – Digitale Systeme und Innovation und einer der Autoren des Standards ISO 16505. An der Hochschule Ulm ist er Professor für den Entwurf digitaler Systeme und leitet den Studiengang Fahrzeugelektronik. Zuvor arbeitete Anestis Terzis zehn Jahre bei der Daimler AG im Bereich Forschung und Vorentwicklung auf dem Gebiet der Fahrerassistenzsysteme.

Professor Dr.-Ing. Anestis Terzis
Steinbeis-Transferzentrum DSI – Digitale Systeme und Innovationen (Ulm)
SU1637@stw.de

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