Demographischer Wandel und medizinischer Fortschritt entwickeln sich rasant. Vor allem die Zahl der Menschen, die unter den sogenannten Volkskrankheiten wie Diabetes, Asthma, Herzinsuffizienz und Depressionen leiden, nimmt stetig zu, aber auch die Zahl derer, die an Krebs erkranken, steigt. Dank der zielgerichteten Forschung im Bereich der Onkologie wird die Zahl der Therapiemöglichkeiten immer größer – aber dadurch wird das Feld auch vielfältiger und schwerer überschaubar. Für Ärzte stellt sich die Frage, welche Therapieoption bei welcher Konstitution und genetischen Prädisposition die wirksamste und für den betroffenen Patienten die Beste ist. Das Steinbeis- Transfer-Institut Klinische Hämatoonkologie an der Steinbeis-Hochschule Berlin entwickelt gemeinsam mit Partnern eine software-basierte Leitlinienübersicht, die Ärzten die Arbeit erleichtern soll.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind Hunderttausende von Publikationen zu den unterschiedlichsten Indikationsgebieten veröffentlicht worden, hinzu kommen „tagesaktuelle“ Ergebnisse aus Experimentalstudien, beides muss in ärztliche Entscheidungen einbezogen werden. Darüber hinaus wächst die Zahl an diagnostischen Tests zur Prüfung prädiktiver Therapiefaktoren – dies alles macht es immer schwerer, den aktuellen Gesamtüberblick mit den klassischen Mitteln der Informationsvermittlung zu behalten. Wie soll und kann der einzelne Arzt seine Entscheidungen nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse treffen?
Die Entwicklung von Leitlinien und das Ausrichten der Therapie an diesen konsentierten Empfehlungen sind hierbei die Methode der Wahl. Evidenzbasierte Leitlinien sind das Resultat einer systematischen Zusammenstellung und Aufarbeitung der Literatur, werden regelmäßig aktualisiert oder enthalten einen Hinweis auf ihre Geltungsdauer. Der Arzt wertet die Laborwerte und Parameter eines Patienten aus und legt anhand eines Leitlinienhandbuches die ersten Therapieschritte fest. Je nach Behandlungsfortschritt werden weitere Therapieentscheidungen getroffen. Bislang muss der Arzt diese Empfehlungen in der gedruckten Leitlinie oder der Online-Version nachlesen. Eine software-basierte Leitlinienübersicht würde dem Arzt die Arbeit erleichtern. Zudem könnten die Entscheidungen besser dokumentiert und leichter nachvollzogen werden.
Das Steinbeis-Transfer-Institut Klinische Hämatoonkologie und das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (Karlsruhe) wollen ein onkologisches Expertensystem in einem homogenen und überschaubaren ambulanten medizinischen Setting entwickeln und in der täglichen Praxis erproben, um es schließlich in die breite onkologische Versorgung zu implementieren. Das Expertensystem wird zunächst in wenigen abgrenzbaren und überschaubaren Indikationsgebieten entwickelt und getestet. Erprobt werden soll es in den regional gut vernetzten ambulanten onkologischen Zentren Donauwörth-Dachau- Freising-Fürstenfeldbruck. In diesen onkologischen Zentren werden in enger Kooperation mit den umliegenden Krankenhäusern pro Quartal rund 3.500 Tumorpatienten behandelt. Dadurch sind diese Strukturen gut geeignet, wichtige praktische und theoretische Inputs bei der Entwicklung des Systems zu geben. Die für das Expertensystem notwendige medizinische Datenbank kann ferner dazu genutzt werden, die Versorgungsqualität in der ambulanten Onkologie zu messen. Dies ist für die ambulante spezialärztliche Versorgung von hoher Bedeutung.
Das wissensbasierte System wird als Client-Server-Architektur umgesetzt werden. Der Server dient dabei als zentrale Datenhaltung. Als Clients können beispielsweise Internetbrowser verwendet werden. Vorteil einer solchen technischen Lösung im Vergleich zu Leitlinien-Büchern ist das schnell anpassbare Wissen an neue Forschungsergebnisse. So können Ärzte mit der entsprechenden Qualifikation und Berechtigung neues Wissen beispielsweise aus Tumorkonferenzen einpflegen und anderen Arztpraxen zur Verfügung stellen. Auf Serverseite muss das Wissen aus Leitlinien und Interviews mit Experten in geeigneter Weise formalisiert werden. Dazu gibt es Ansätze basierend auf einer ontologischen oder auch logikbasierten Modellierung. Ein Qualitätsmanagement der Daten wird es ermöglichen, gesichertes Wissen von neuem, noch nicht langzeitlich gesichertem Wissen zu trennen. Auf Clientseite ist das System in der Lage, dem Arzt für einen individuellen Patienten auf Basis seiner bisherigen Eingaben geeignete Tests vorzuschlagen, die eine Entscheidungsfindung unterstützen. Die zugrundeliegende Methodik basiert auf Ansätzen aus der künstlichen Intelligenz, wie beispielsweise dem logischen Schließen, der Bayes‘schen Inferenz oder maschinellen Lernverfahren.
Die Projektpartner planen ein mehrstufiges Projekt. Da es sich beim projizierten selbstlernenden Expertensystem im Bereich der Onkologie um ein komplexes technisches, medizinisches und auch politisches Projekt handelt, wollen sie zunächst mit der Entwicklung einer softwarebasierten Leitlinie zu einer Indikation beginnen. In einem weiteren Schritt kann das Expertensystem dann auf die Nutzung der Daten aus anderen Datenbanken – zum Beispiel der von Tumorzentren der Region oder auch Krebsregistern – weiter entwickelt werden.
Das Steinbeis-Transfer-Institut Klinische Hämatoonkologie wird vor allem die Versorgungsforschung in der ambulanten Onkologie unter besonderer Berücksichtigung der ambulanten spezialärztlichen Versorgung und den Transfer der Ergebnisse in die Praxis sowie die ethische Begleitforschung betreuen. Daneben begleitet ein wissenschaftlicher Beirat das Projekt, in dem Experten aus dem onkologischen Bereich vertreten sind sowie politische Partner und Partner aus der Wirtschaft.
Dr. med. Dirk Hempel
Steinbeis-Transfer-Institut Klinische Hämatoonkologie (Donauwörth)
su1695@stw.de