Im Jahr 2011 haben wir sie zum ersten Mal erhalten: die 4 für unsere Industrie. Und seither scheint es trotz nie dagewesener Allianzen nicht zu gelingen, dies zu verändern. Politiker im Land und im Ländle versuchen sich „mit aller Gewalt“ an einer nächsten industriellen Revolution.
Was in Deutschland vor vier Jahren begann, breitet sich auf China („Made in China 2025“) und sogar die USA („Industrial Internet“) aus. Und unsere Industrie? Sie verharrt bei 4.0. Vielleicht ist das Problem viel grundsätzlicher: Wo soll sie denn hingehen, unsere Industrie? Softwareevolutionäre und technologieorientierte Forschungsprojektjäger drängen mit Vehemenz in Richtung 5.0. Demgegenüber beharren Ökonomen auf einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung, die an die Umsetzungsgeschwindigkeit des Mittelstandes angepasst ist und auf realen Business Cases aufsetzt, in Richtung eines Wirtschaftswunders 2.0.
Apropos Wirtschaftswunder: Vor 60 Jahren begann das deutsche Wirtschaftswunder 1.0, das im Wesentlichen auf der Leidenschaft etwas Neues zu schaffen gepaart mit dem Mut kreativer und zukunftsorientierter Arbeitnehmer und Unternehmer basierte. Entstanden sind hierdurch einerseits weltweit erfolgreiche Produkte und Dienstleistungen sowie andererseits herausragende Ansätze und Technologien, die deren wettbewerbsfähige industrielle Herstellung ermöglicht haben.
Vielleicht tun wir gut daran, diese Dualität in der aktuell geführten Diskussion neu zu akzentuieren, da der Garant für Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland nach wie vor der Anteil an Wertschöpfung von auf dem Weltmarkt erfolgreichen Produkten ist. Eine eng fokussierte Diskussion auf das „wie“ der industriellen Produktion hilft daher nur bedingt weiter und muss immer ausgehend von der Frage, „was“ zukünftig an den Weltmärkten erfolgreich abgesetzt werden kann, beantwortet werden. Damit öffnet sich auch der Blick dafür, dass aus Sicht des Kunden nicht der Herstellungsprozess, sondern der Nutzen von mittels adäquater Herstellungsprozesse gefertigter individueller Güter im Mittelpunkt stehen muss. Ansonsten läuft die deutsche Wirtschaft Gefahr, zum austauschbaren Lieferanten zu werden.
Sprechen wir daher bald von Produkten 2.0? Fachlich zu begründen ist dieser Begriff, insbesondere mit der rasant zunehmenden Vernetzung von (Alltags-) Gegenständen und den darauf basierenden Möglichkeiten für neue Services. Auch hier werden „Revolutionen“ in Form disruptiver Technologien angekündigt, die unsere Industrie, unsere Arbeits- ja sogar unsere gesamte Lebenswelt radikal verändern können. Damit lässt sich die Begriffssammlung um „Arbeitswelt 2.0“, „Lebenswelt 2.0“ etc. erweitern. Spätestens an dieser Stelle ist hinreichend motiviert, dass die unter dem Begriff Industrie 4.0 subsumierten Themenbereiche sehr vielschichtig sind und es zum Erreichen von Fortschritten einer ganzheitlichen Betrachtung bedarf.
Das Ferdinand-Steinbeis-Institut, das diesen Themenbereich adressiert und Aktivitäten in diesem Kontext koordiniert, versteht daher unter „Industrie 4.0“ einen „unternehmensspezifischen Ansatz zur Steigerung der Wertschöpfung mittels interdisziplinärer Geschäftsfähigkeiten und Mitarbeiterkompetenzen“. Dreh- und Angelpunkt dieses Verständnisses sind Geschäftsfähigkeiten und Mitarbeiterkompetenzen, die auf einem interdisziplinären Zusammenspiel von Engineering, IT und Managementdisziplinen basieren. Entwicklungen auf der Technologie- und Konzept-Ebene – so „revolutionär“ sie auch sein mögen – sind vor allem „Befähiger“, Geschäftsstrategien und -modelle zielführend umzusetzen. Industrie 4.0 ist damit nicht das „Ziel“, sondern der Weg in eine wettbewerbsfähige Zukunft. Die Identifikation, die Bewertung und der Aufbau neuer Geschäftsfähigkeiten und Mitarbeiterkompetenzen sind hierbei Schritte in die richtige Richtung und somit eine zwingende Voraussetzung für jedes industrielle Unternehmen.
Der Steinbeis-Verbund ist mit seinem Netzwerk aus über 1.000 Steinbeis-Unternehmen in unterschiedlichen Disziplinen und seinen internationalen Kontakten geradezu prädestiniert dafür, maßgeblich mit interdisziplinären Lösungsansätzen insbesondere den Mittelstand zu unterstützen. Steinbeis hat das einzigartige Potential, zu der großen Anzahl an Beispielen für neue Technologien konkrete Projekte in erfolgreicher Umsetzung hinzuzufügen, die auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht auf der Basis belastbarer Geschäftsmodelle überzeugen. Damit wäre ein wichtiger Beitrag zur Überwindung des vielfach wahrgenommenen Stillstands geleistet.