„Der innovative Prozess braucht Flexibilität und Freiheit!“

Im Gespräch mit Professor Dr.-Ing. Jörg W. Fischer

Herr Professor Fischer, die Themen Produktlebenszyklus- (PLM) und Informationsmanagement, Produktentstehungsprozess (PEP) sowie Digitale Fabrik prägen Ihre Arbeit seit mehr als einem Jahrzehnt – eine lange Zeit für eine schnelllebige Branche wie die IKT. Welche Entwicklungen würden Sie als Meilensteine in diesem Bereich bezeichnen?

In den letzten 10 Jahren gab es unglaublich viele Entwicklungen, die einen großen Einfluss auf die Branche gehabt haben. Allem voran ist die Entwicklung vom PDM (Product Data Management) zum PLM (Product Lifecycle Management) zu nennen. Wenn es bei PDM lediglich um die Verwaltung von CAD-Daten ging, so besteht die PLM-Idee darin, alle Produktdaten über deren gesamten Lebenszyklus zu managen. Heute stehen uns die IT-Plattformen, mit denen das möglich ist, wie selbstverständlich zur Verfügung. Ein wichtiger Meilenstein war auch die Entwicklung des Digital Mock Up (DMU), also die Möglichkeit einen digitalen Produktprototypen in 3D lange vor dem realen Prototyp zur Verfügung zu stellen. Dasselbe gelang gleichzeitig auch für die Fabrik. Ein weiterer Schritt war, diesen DMU für unterschiedliche Arten der Simulation verfügbar zu machen, um damit zuverlässige prospektive Aussagen über das zukünftige Verhalten von Produkt und Fabrik zu machen, die an Qualität die zuvor vorhandenen Simulationsverfahren bei weitem übersteigen.

In den letzten 2-3 Jahren hat sich, getrieben vom Industrie 4.0-Gedanken, enorm viel getan. Was mich besonders freut ist, dass viele kleinere Unternehmen dabei ganz vorne mitspielen. An dieser Stelle möchte ich zwei Entwicklungen herausheben. Aktuell haben wir das Problem, dass Digitale Modelle und die Realität sich über die Zeit auseinanderentwickeln. Die mühsam aufgebauten digitalen Modelle werden daher mit dem Betrieb der Anlagen schnell nutzlos. Um den automatischen Abgleich zwischen realer Anlage und virtuellem Modell zu realisieren, hat einer unserer Partner, die IPO.Plan GmbH, eine tolle Technologie entwickelt: Mit dem IPO.Eye stellen sie einen Roboter bereit, der autonom durch ein Werk fahren kann, die aktuelle Situation im Werk scannt und damit das digitale Modell aktualisiert. Das ist eine Technologie, um zukünftig produktionsbegleitende ad hoc Simulationen überhaupt erst durchführen zu können. Die zweite zu nennende Entwicklung ist die Virtuelle Werkzeugmaschine. Mit der heute verfügbaren Technologie ist es für Werkzeugmaschinenhersteller möglich, zur realen Maschine auch eine Virtuelle Maschine auszuliefern. Diese werden von derselben Steuerung angetrieben, damit ist ihr Verhalten fast identisch. Dass dies auch kleinere Werkzeugmaschinenhersteller, wie z.B. unser Partner ELHA, wie selbstverständlich tun, ist ein tolles Zeichen deren Innovationskraft.

Die durch Kosten- und Konkurrenzdruck getriebene Produktivitätssteigerung ist heute ein wichtiger Bestandteil der meisten Unternehmensstrategien. Welche Rolle spielen dabei der PEP und das PLM? Worauf sollten insbesondere mittelständische Unternehmen in diesem Zusammenhang verstärkt achten?

Unternehmen haben in den letzten Jahren sehr viel Aufwand in die Vermeidung von Verschwendung und die schlanke Gestaltung des Materialflusses investiert. Zu jedem Materialfluss findet gleichzeitig ein Informationsfluss statt. Interessant ist, dass das Thema Verschwendung beim Informationsfluss bisher keine Rolle spielt. Die zunehmende IT-Durchdringung des PEP wird die Anzahl der zu handhabenden Produktinformationen noch erhöhen. Was diesbezüglich an Anforderungen auf die Firmen zukommen wird, übersteigt das, was wir heute kennen, bei weitem. Bisher wird oft versucht diese Problematik rein technisch, z.B. durch ein PDM-System zu lösen. Die Gestaltung der Produktentstehung im Sinne einer organisatorischen Rationalisierung wird ausgeklammert und die gewachsenen Prozesse beibehalten, was natürlich nicht wirklich effektiv ist. Die schlanke Gestaltung des PEP ist bei der Einführung oder Weiterentwicklung im PLM unbedingt notwendig. Wichtig ist es, diese als echte Chance zur organisatorischen Rationalisierung zu begreifen und sie im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses gezielt umzusetzen. Mittelständische Unternehmen sollten sich bewusst werden, dass sich die Investitionen ins Lean Management vor allem dann auszahlen werden, wenn der Lean Management-Gedanke auch auf die Produktentstehung übertragen wird. An dieser Stelle brauchen die Unternehmen Hilfe. Unserem Steinbeis-Transferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau ist hierfür ein Durchbruch gelungen: Mit der von uns entwickelten Do(PLM)Con Methode können wir den Ist-Zustand der Informationsentwicklung im Produktlebenszyklus für alle Beteiligten frei von komplizierter IT-Terminologie transparent machen und die vorhandenen Probleme erkennen. Basierend darauf entwickeln wir mit unseren Kunden dann den Soll-Prozess und begleiten sie bei dessen Umsetzung.

Dass die Erfüllung der Kundenanforderungen einen wesentlichen Einfluss auf den Produkterfolg hat, versteht sich von selbst. Wichtig ist, die Dokumentationsqualität im Anforderungsmanagement zu steigern und Fehler durch Missinterpretation zu vermeiden. Sie haben an der Entwicklung eines PLM-integrierten Anforderungsmanagements mitgearbeitet, das hilft, dieses Problem zu lösen. Geben Sie uns einen kurzen Einblick in dieses Werkzeug!

Für Unternehmen ist heute die Fähigkeit, eine gute Idee schnell in ein erfolgreiches Produkt zu transformieren, ein entscheidender Erfolgsfaktor. Innovation sollte kein Zufall sein. Bedenkt man, dass nach Expertenaussagen 50% der Produkteinführungen keinen Erfolg haben, muss man sich natürlich die Frage stellen, woran das liegt. Offensichtlich gelingt es vielen Unternehmen nicht, die Anforderungen des Marktes in ihr Produkt und dessen Komponenten zu transformieren. Anforderungen durchlaufen in der Produktentstehung unterschiedliche Abstraktionsebenen. Dieser Verfeinerungsprozess findet über Abteilungs- und Unternehmensgrenzen hinweg statt. Dabei müssen die Anforderungen immer wieder verbal formuliert, erklärt und diskutiert werden. Jeder dieser Transformationsschritte birgt ein Risiko, dass Anforderungen missinterpretiert werden oder ihr Kontext verloren geht. Hier stellte sich uns die Frage, ob sich nicht ein methodischer Ansatz entwickeln ließe, der die genannten Probleme beheben kann, sich einfach auf Basis der Systemfunktionalitäten des PLM-Systems Teamcenter von Siemens realisieren lässt und darüber hinaus nahe an der intuitiven Vorgehensweise der Ingenieure liegt. Dies ist uns mit der SITIO Methode (Securing Information Transformation for Input and Output) gelungen. Unser Transferzentrum bietet seinen Kunden eine entsprechende Beratungsleistung zur Einführung an und wir bemerken ein großes Interesse an diesen Themen im Markt.

Herr Professor Fischer, Sie sind seit einem Jahr am Steinbeis- Transferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau tätig, das von Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Hocheisel vor 30 Jahren gegründet wurde und seitdem erfolgreich geleitet wird. Sein Dienstleistungsangebot reicht von der Beratung bis zur Umsetzung/Anpassung der PLMKomponenten. Können Sie einen Trend erkennen, wohin sich die Aufgabenstellungen und Anforderungen Ihrer Kunden entwickeln?

Aktuell lassen sich abgeleitet aus unseren Diskussionen am Markt drei wesentliche Trends erkennen. Viele Unternehmen haben erfolgreiche PLM-Komponenten eingeführt und damit einige Routineprozesse erfolgreich automatisiert. Dadurch werden ihnen aber auch viele Schwächen in ihren Prozessen erst bewusst. Immer häufiger fragen unsere Kunden, wie denn der PEP konsequent schlank gestaltet werden kann. Ein weiterer Trend ist der Wandel von Engineering to Order (ETO), also der kundenauftragsspezifischen Fertigung, hin zum Configure to Order (CTO). Viele Unternehmen arbeiten aktiv an der Modularisierung ihrer Produkte gepaart mit der Einführung von geeigneten Konfigurationssystemen. Ziel ist es, dem Kunden konfigurierbare Produkte anbieten zu können, die die individuelle Kundenanforderung erfüllen, aber zu einem hohen Anteil aus kombinierbaren Standardmodulen bestehen. Dies ermöglicht es dem Unternehmen dann häufig sich von der Werkstatt- oder Inselfertigung hin zu einer Linienfertigung zu entwickeln und bringt Komplexitätsreduktion sowie hohes Einsparungspotenzial in Produktentwicklung und Produktion mit sich. Zu bedenken ist dabei, dass Modularisierung ohne eine geeignete Methodik und eine modular denkende Organisation nicht zu lösen ist. Ein weiterer Trend ist die intensiver werdende Diskussion, wie PLM-Systeme und ERP-Systeme zueinander positioniert werden. An der Grenze dieser Systeme treffen die streng formalen Prozesse der Warenwirtschaft auf den technologischen, innovativen Prozess der Produktentstehung. Hier wird die Frage diskutiert, inwieweit der im Mittelstand verbreitete Ansatz PLM als Anhängsel von ERP zu verstehen, nicht den innovativen Prozess durch die damit einhergehende systembedingte Formalisierung behindert. Der innovative Prozess braucht Flexibilität und Freiheit! Zukünftig muss die PLM-Plattform zunehmend als aktive Arbeitsumgebung agieren, die errät, was wir tun wollen, und uns dabei unterstützt. Der Mensch steht dann im Zentrum und orchestriert den kreativen Prozess, ohne seine Zeit mit mühseligen formalen Aufgaben zu verschwenden.

Kontakt

Professor Dr.-Ing. Jörg W. Fischer ist als Projektleiter im Steinbeis- Transferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau beschäftigt und Professor an der Hochschule Karlsruhe. Das Portfolio des Steinbeis-Unternehmens reicht von der Beratung bis zur Umsetzung/ Anpassung der PLM-Komponenten sowohl für kleine als auch mittelständische und große Unternehmen.

Professor Dr.-Ing. Jörg W. Fischer
Steinbeis-Transferzentrum Rechnereinsatz im Maschinenbau (STZ-RIM) (Karlsruhe)
joerg.fischer@stw.de

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