„Die Forderung nach sicheren Lebensmitteln steht an erster Stelle“

Im Gespräch mit Professor Dr. Reinhard Kimmich

Herr Professor Kimmich, Qualitätsmanagement-Systeme (QMS) sind in der modernen Lebensmittelherstellung nicht mehr wegzudenken. Die Implementierung von QM-Systemen hat seit Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts einen enormen Aufstieg erlebt. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen?

Der Aufstieg der QM-Systeme ging zunächst an der Ernährungswirtschaft vorbei. Erst als die großen Branchen wie die Automobil- und Elektrobranche zu nahezu 100% ISO-9000-zertifiziert waren und ISO 9000 nicht mehr als Marketing-Instrument diente, sondern als selbstverständlich angesehen wurde, erfasste diese Norm auch die Betriebe der Ernährungswirtschaft. Als Lead-Auditor für ISO 9000 konnte ich bei vielen Kunden die positiven Auswirkungen (Prozessmanagement, kontinuierlicher Verbesserungsprozess etc.) eines wirksamen QMS beobachten. Doch bevor eine vollständige Durchdringung der Lebensmittelbranche erreicht wurde, setzte der Handel eigene Schwerpunkte mit dem IFS – International Food Standard. Gegenwärtig ist die Version 6 „Standard zur Beurteilung der Qualität und Sicherheit von Lebensmitteln“ in Kraft. Da der Handel die IFS-Zertifizierung voraussetzt, kann sich kaum ein Lebensmittelhersteller entziehen. Zunächst war der IFS ein reines Risikomanagementsystem, bis zur Version 4 stand die Hygiene im Vordergrund. Der IFS sollte den Handel vor Rückrufen, Skandalen und Negativschlagzeilen schützen. Mit den Versionen 5 und 6 wurden immer mehr Komponenten der ISO 9000 adaptiert. Das hat viele Lebensmittelhersteller veranlasst auf die ISO 9000-Zertifizierung zu verzichten. Die ISO 22000 (Managementsystem für die Lebensmittelsicherheit) hat sich deshalb in Europa im Lebensmittelsektor ebenfalls nicht durchsetzen können.

Sie bieten in Ihrem Steinbeis-Transferzentrum Qualitätsmanagement in der Lebensmittelindustrie, das Sie seit 15 Jahren leiten, die Erstellung ganzheitlicher Qualitätsmanagementkonzepte an. Warum haben Sie sich für den ganzheitlichen Ansatz entschieden und wie sieht seine Umsetzung in der Praxis aus?

Mit einem ganzheitlichen oder Integrierten Managementsystem soll das Unternehmen eine schlanke, pragmatische Dokumentation aufbauen, mit der die Belange des Handels (IFS 6), die Forderungen des Gesetzgebers (sichere Lebensmittel, Arbeitsschutz, Umweltschutz) und natürlich die Ziele des Unternehmens, nämlich kontinuierliche Verbesserung der Prozesse, erfüllt werden können. Als Einstieg eignet sich die prozessorientierte Norm ISO 9001. Ob man das QMS nach ISO 9001 zertifizieren lässt, ist eine zweitrangige Frage. Auf der Basis der Prozessbeschreibungen lassen sich die verschiedenen Zertifizierungssysteme transparent aufbauen.

Die Anforderungen der Kunden an die Lebensmittel sind in den letzten Jahren rasant gestiegen. Welchen Einfluss haben diese Veränderungen auf die Qualitätsmanagement-Systeme? Und welche Herausforderungen sehen Sie in diesem Bereich für Ihre zukünftigen Projekte?

Hier muss man die Qualitätsanforderungen der Zielgruppen unterscheiden. Auf dem deutschen Markt ist die Bereitschaft für qualitativ hochwertige Lebensmittel einen angemessenen Preis zu bezahlen noch wenig ausgeprägt. Vor dem Hintergrund der Lebensmittelskandale in der jüngeren Zeit steht die Forderung nach sicheren Lebensmitteln an erster Stelle. Hier spielt der technologische Ansatz die wichtigste Rolle. Die Gruppe, die ökologisch erzeugte „Bio-Lebensmittel“ wünscht, ist jedoch im Wachstum begriffen. In diesem Zusammenhang gewinnt das Management der Supply Chain an Bedeutung. Die langfristige partnerschaftliche Kooperation von Erzeugern und Lebensmittelherstellern wird ebenfalls an Bedeutung gewinnen genauso wie die Rückverfolgung der Lebensmittel bis zum Erzeuger und deren Überprüfung mit modernen analytischen Methoden.

Eine besondere Herausforderung stellen Allergene in Lebensmitteln für die Lebensmittelhersteller dar. Allergiker können bereits bei kleinsten Allergenspuren mit gesundheitlichen Beschwerden reagieren. Deshalb müssen Hersteller von fertigen Lebensmitteln auf den Verpackungen die Zutaten angeben. Eine besondere Deklarationspflicht bezieht sich dabei auf die Hauptallergene wie z. B. Erdnüsse, Sellerie oder Ei, auch wenn diese rezepturbedingt nur in kleinen Mengen vorkommen. Werden Lebensmittel mit hohem Allergiepotenzial verarbeitet, kommen auf die Hersteller ganz neue analytische Herausforderungen zu. In der Produktion müssen Prozesse validiert werden, um Kontaminationen mit Allergenen auszuschließen. Daher gewinnt die Prozessvalidierung, die bislang nur aus der Arzneimittelproduktion bekannt war, auch in der Lebensmittelindustrie zunehmend an Bedeutung.

Ihr Steinbeis-Unternehmen bietet seinen Kunden auch Aus- und Fortbildung auf dem Gebiet Qualitätsmanagement in der Lebensmittelindustrie an. Wo haben Sie dabei die Schwerpunkte gesetzt?

Der Schwerpunkt liegt auf dem Gebiet des Prozessmanagements (ISO 9001) und des Risikomanagements (HACCP). Ein hochaktuelles Gebiet, auf dem die Kenntnisse in den vielen mittelständischen Betrieben noch sehr gering sind, stellt die Sensorik dar. Als instrumenteller Analytiker bin ich immer wieder beeindruckt, welche Informationen und Details ein geschultes Sensorik-Panel bei der Beurteilung von Lebensmitteln feststellen kann. Bei großen Lebensmittelherstellern ist die Sensorik das Zentrum, an dem sich die anderen Abteilungen orientieren. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Sensorik-Labor unserer Hochschule Albstadt-Sigmaringen verweisen. Im Studiengang „Lebensmittel, Ernährung, Hygiene“ bilden wir unsere Studierenden in der Sensorik aus und bieten auch Schulungen für Externe.

Hygiene spielt in der Lebensmittelindustrie eine wichtige Rolle. Wo sehen Sie bei Ihren Kunden aktuell den Bedarf in diesem Bereich, welche Projekte und Angebote sind momentan besonders gefragt?

Eine Häufigkeitsanalyse der Themen der Abschlussarbeiten in unserem Bachelorstudiengang über drei Jahre (210 Abschlussarbeiten) zeigt klar und deutlich die Prioritäten in den Fragestellungen der Lebensmittelhersteller. 20% der Arbeiten bewegen sich im Bereich des Qualitätsmanagements, 14% sind Ernährungsfragestellungen, 13% Hygienethemen und 10% befassen sich mit Fragen der Produktentwicklung.

Kontakt

Prof. Dr. Reinhard Kimmich bietet in seinem Steinbeis-Transferzentrum Qualitätsmanagement in der Lebensmittelindustrie an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen neben der Erstellung von ganzheitlichen Qualitätsmanagementkonzepten und Beratung beim Aufbau von Qualitätsmanagement- Systemen auch Fortbildung von Mitarbeitern der Lebensmittelindustrie sowie Kurse und Ausbildungslehrgänge zu Grundlagen des Qualitätsmanagements an.

Professor Dr. Reinhard Kimmich
Steinbeis-Transferzentrum Qualitatsmanagement in der Lebensmittelindustrie (Allensbach)
su0487@stw.de

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