Zu real, um wahr zu sein

Steinbeis entwickelt interaktiven Produktkatalog

Wie vermittelt man Prozesse, die in der Realität kaum oder nicht sichtbar sind? Wie wird die Kompetenz eines Unternehmens deutlich, wenn große Teile des eigentlichen Know-hows im Verborgenen liegen? Die Coperion-Gruppe diskutiert dieses Problem seit Jahren. Als Weltmarktführer für Compoundiersysteme, Schüttgutanlagen und Komponenten für die Kunststoff-, Chemie-, Mineralstoff- und Lebensmittelindustrie war man immer auf der Suche nach transparenten Vermittlungsmöglichkeiten und Präsentationsformen. Mit seiner Anwendung „Extended Paper“ entwickelte das Steinbeis-Forschungszentrum Design und Systeme nun einen komplett interaktiven Produktkatalog, der das aktuelle Lieferprogramm von Coperion digital erweitert.

Mit markerlosem Tracking werden die jeweiligen Produkte im neuen Lieferprogramm erkannt, sobald sie unter eine Kamera gehalten werden. Der Nutzer kann dann Simulationen, Explosionsansichten und Zusatzinfos direkt und intuitiv mit dem Katalog aktivieren und im Detail betrachten. Die Anwendung wurde auf der Messe Powtech 2013 in Nürnberg erstmals präsentiert.

Diese Art von „Realitätserweiterung“ wird auch „Augmented Reality“ (kurz AR) genannt. Im Gegensatz zu rein virtuellen Szenarien wird hier die reale Wahrnehmung virtuell ergänzt. Diese Technik kann als Durchsichtmedium wie bei AR-Brillen (z. B. Google Glass), oder als HeadUp-Display in Fahrzeugen seinen Einsatz finden, oder eben ein Live-Kamerabild ergänzen. Virtuelle und reale Objekte stehen hier in einem dreidimensionalen Bezug zueinander.

Eine Maus als Interface birgt zur Interaktion mit dreidimensionalen Inhalten einige Schwierigkeiten, im „Raum“ zu navigieren. Komplexere Eingabegeräte, die hierfür optimiert sind, wie „Space-Navigator“ oder „3DMäuse“ sind kaum intuitiv bedienbar. Ein reales Buch als Eingabemedium ermöglicht allerdings die direkte Beherrschung aller Freiheitsgrade, ohne dass eine grundsätzlich neue Interaktionslogik erlernt werden muss. Die Präsentationssituation auf einer Messe stellt genau diese Anforderungen an eine interaktive Produktpräsentation. Die Besucher müssen rasch Zugang zu den Inhalten finden, ohne sich mit komplexer Technologie auseinandersetzen zu müssen. Mit der Extended Paper-Anwendung kann Coperion erstmals die Vielzahl an individuellen Lösungen eingängig vermitteln, ohne unter großem logistischen Aufwand reale Komponenten präsentieren zu müssen. Die Anwendung ergänzt die Möglichkeiten virtueller Simulation mit der intuitiven Bedienbarkeit eines gedruckten Mediums.

Die funktionsfähigen, dreidimensionalen Anlagenteile werden komplett in Echtzeit gerendert und dargestellt. Hierfür wurden vorhandene CADDaten entsprechend aufbereitet und mit Prozesssimulationen ergänzt. Sonst unsichtbare Vorgänge im Inneren von Maschinen und Anlagenteilen können durch transparente Darstellungen und Explosionsansichten begreifbar gemacht werden. Je nachdem, wie der Benutzer die gedruckte „Referenz“ vor die Kamera hält, können durch Drehen oder Schieben in eine bestimmte Richtung unterschiedliche Darstellungsvarianten der dreidimensionalen Grafik erzeugt werden.

Es war eines der vordringlichen Ziele, die Präsentation möglichst ideal an eine Gesprächssituation anzupassen. Hierfür entwickelten die Steinbeis- Experten Präsentationsstelen mit integrierter Kamera, die auf Grund der AR-Interaktionslogik auf zusätzliche Eingabegeräte verzichten können. Sämtliche Eingaben, Abfragen und Detailinformationen werden mit dem Katalog direkt vorgenommen. Auch ungeübte User oder Messebesucher konnten das System ohne weitere Hilfen sofort problemlos bedienen. Der Interessent kann das jeweilige Produkt durch dieses System nicht nur betrachten und detailliert erkunden, sondern die sonst oft tonnenschweren Komponenten quasi in Händen halten. Dieser emotionale Moment wird durch weitere „Mixed-Reality“ Medien wie produktbezogene Lichtakzente und Ton abgerundet, um einen möglichst immersiven Wahrnehmungsraum zu erzeugen.

Bei diesem Projekt fiel die Wahl der Programmierumgebung auf das C++ Framework „openFrameworks“. Beim Trackingverfahren war es den Entwicklern am Steinbeis-Forschungszentrum Design und Systeme wichtig, nicht auf etablierte Marker zurück zu greifen, sondern ein aufwendigeres markloses Erkennungsverfahren zu implementieren. Dieses ermöglicht es, anstatt maschinenlesbarere, klassische Muster, die reinen Katalogseiten ohne Zusätze zu nutzen. So gab es auch bei der Gestaltung des Printmediums keine speziellen Anforderungen und zudem sind digitale Kataloginhalte so jederzeit beliebig ergänzbar.

Neben der Konzeption und Entwicklung der Präsentationssoftware wurde auch die gesamte Hardware und das Präsentationssetup vom Würzburger Steinbeis-Forschungszentrum geplant und entwickelt. Das Spektrum vom ersten Entwurf des Messestandes, über die individuelle Beleuchtungssteuerung und Softwareprogrammierung bis hin zur Implementation vor Ort wird innerhalb des Forschungszentrums ausgefüllt. Die „AR-Stelen“ werden nun auf weltweiten Messen ihren Einsatz finden. Für den Vertrieb ist ein Ausbau als Web-Anwendung schon in Planung, um das Tool auch jederzeit online nutzen zu können.

Das Steinbeis-Forschungszentrum unter der Leitung von Prof. Erich Schöls und Sebastian Gläser arbeitet eng mit der Fakultät Gestaltung der Hochschule Würzburg zusammen. Studenten und Absolventen beschäftigen sich hier mit der angewandten Forschung und Entwicklung im Bereich der digitalen Informations- und Kommunikationsmedien. Es werden interdisziplinäre Fragestellungen im Umfeld von Kommunikationsdesign und Informatik aufgegriffen, um solche innovativen Produkte zu entwickeln. Designer werden hier zu multimedialen Übersetzern von Impulsen und Codes, die gesellschaftliches und ökonomisches Handeln verständlich machen und durch neue Wissenstechnologien und die Entwicklung experimenteller Konzepte zur Optimierung von Aufgaben in Industrie und Gesellschaft beitragen.

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