Multifunktionale Glas-Neurochips

Steinbeis und Universität Rostock entwickeln System in vitro vitro-Untersuchung

Toxikologische Untersuchungen von Alt- und Neustoffen sind in sicherheitstoxikologischen Prüfrichtlinienprogrammen der OECD und der EU geregelt. Im Laufe der letzten Jahre wurde immer deutlicher, dass einige Stoffe eine besondere Gefahr für Kinder darstellen, die besondere Anfälligkeit des sich entwickelnden menschlichen Gehirns rückte zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Inzwischen wird für chemische Substanzen mit bekannten neurotoxischen oder teratogenen Effekten eine Untersuchung zur Entwicklungsneurotoxizität empfohlen. Darüber hinaus fordert die US Environmental Protection Agency (US EPA) die Untersuchung der Entwicklungsneurotoxizität von Pestiziden. Derzeit ist die Aufnahme von Tests zur entwicklungsbedingten Neurotoxizität in die REACH- (Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals) Verordnung der EU in der Diskussion, bei der rund 30.000 Substanzen hinsichtlich ihres toxischen Potenzials bewertet werden müssen.

Die in den 1980er- und 90er-Jahren aufgekommene Lab-on-chip-Technologie auf Si-Basis diente zunächst der Entwicklung von beispielsweise Mikropumpen und -ventilen. Später folgten Anwendungen im bioanalytischen Sektor und Optimierungen in der Technologie der Mikrofabrikation, Mikrolithographie und Oberflächenstrukturierung für die DNA-Separation und Zellmanipulation im elektrischen Feld und andere Anwendungen. Heute liegen bei biologischen und medizinischen Anwendungen die Forschungsschwerpunkte in der Zellkultur, der biochemischen Analyse und der klinischen Diagnostik (Immunoassays, Proteinseparation und -analyse sowie PCR). Untersuchungen zielen auch auf die elektrophysiologischen und metabolischen Eigenschaften biologischer Zellen: Zellen können aufgrund ihrer Sensitivität bestens für Substanzscreenings herangezogen werden. Um schnelle, kompakte und aussagekräftige Systeme zu entwickeln, wurden Zellkultur- und Analysesysteme vereint. So können auch zeitliche Änderungen physiologischer Daten in Abhängigkeit von zu testenden Wirkstoffen online aufgezeichnet werden.

Zur in vitro-Untersuchung von Wirbeltier- Nervenzell-Netzwerken haben Experten des Steinbeis-Transferzentrums Zell-Manipulations- und Monitoring-Systeme (CMMS®) und des Lehrstuhls für Biophysik der Universität Rostock ein innovatives System entwickelt. Dieses Modulare Glas-Chip-System (MOGS) setzt sich aus einem miniaturisierten, mikrostrukturierten Glas-Chip und einem Vorverstärker zusammen. Das Kernstück, der Glas-Chip, besteht aus einem 1 mm2 großen Multi-Elektroden-Array (MEA) mit 52 Platinmikroelektroden auf einem Glasträger.

Der Chip besitzt elektrische Kontakte an jeder seiner vier Kanten. Die MEA-Zuleitungen auf dem Chip sind im maximalen Abstand zueinander angeordnet. Zusätzlich sind eine Interdigitale Elektroden-Struktur (IDES) und ein Temperatursensor als Mäanderstruktur aufgebracht. Zur Aufnahme des Zellkulturmediums und von Testsubstanzen ist ein aus Glas bestehender Trog (Dinnen = 8 mm; H = 5 mm) aufgeklebt. Der Glas-Chip ist mikroskopierbar, dampfsterilisierbar und mehrfach wiederverwendbar. Die Chipkontaktierung erfolgt mit Goldfederstiften zwischen Glas-Chip und einer abnehmbaren Adapterplatine. Der Vorverstärker besitzt ein flaches Abschirmgehäuse mit einem runden optischen Durchbruch, um die Mikroskopierbarkeit während der Messung der elektrischen Netzwerkaktivität zu gewährleisten. Der Vorverstärker ist zur Schnittstelle eines kommerziellen Systems kompatibel, das die Messwerte digitalisiert, so dass die Auswertung mittels einer geeigneten Analysesoftware erfolgen kann.

Die mit neuronalen Zellen bewachsenen MEA-Elektroden erfassen die elektrische Zellaktivität. Über die IDES-Impedanzmessung werden Zelladhäsion und Zellausbreitung als Indikator für die Zellvitalität sowie die Ausbreitung der Zellen auf der IDES durch Zellwachstum und -vermehrung erfasst. Der integrierte Temperatursensor dient der Temperaturkontrolle in direkter Zellnähe und der Detektion von Temperaturänderungen. Die Integration zusätzlicher Glasfasersensoren für die Messung von Ansäuerung und Sauerstoffverbrauch sind geplant.

Das MOGS kann in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung (Entwicklung von Protokollen zur Ausdifferenzierung von Stammzellen) ebenso wie im Entwicklungs- und Analysebereich (Einsatz als hochempfindliches Analysesystem zum spezifischen Nachweis von toxischen, neuro- und entwicklungsneurotoxischen Substanzen im klinischen, Umwelt-, Lebensmittel- und Pharmabereich) eingesetzt werden. Besonders geeignet ist das System für die Entwicklung von Tierversuchsersatzmethoden. Bei der Ausdifferenzierung von Stammzellen zu neuronalen Zellen auf dem Glas-Chip können metabolische und elektrophysiologische Prozesse online verfolgt werden. Die gleichzeitige Einsaat von murinen Primärzellen eines Spenderorganismus‘ in viele Chips und deren parallele Bearbeitung ähnlich wie in Multiwell-Systemen erlaubt in vitro-Versuche mit wenigen Spenderorganismen. Letztendliches Ziel soll jedoch der Einsatz von Zellkulturlinien sein, beispielsweise murinen Stammzellen, für die Entwicklung von Medikamenten und die Erforschung der Wirkmechanismen chemischer Substanzen. Das MOGS stellt einen ersten Schritt in diese wichtige Richtung dar.

Kontakt

Sebastian Bühler | Marco Stubbe |Philipp Julian Köster |
Dr. Werner Baumann | Prof. Dr. Jan Gimsa

Steinbeis-Transferzentrum Zell-Manipulationsund Monitoring-Systeme (CMMS)
(Rostock)

su1050@stw.de

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