„Die Idee ist klar, die weitere Entwicklung sicherlich unverzichtbar“

Im Gespräch mit Privatdozent Dr.-Ing. Niels Grabe

Herr Dr. Grabe, Sie beschäftigen sich mit der medizinischen Systembiologie – einer noch recht jungen Disziplin, die versucht, biologische Organismen in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Wie ist dieser Forschungsbereich entstanden und was ist das Besondere daran?

Aus historischer Sicht war es nach der ersten Begeisterung über die erste Sequenzierung des menschlichen Erbguts zunächst enttäuschend, dass sich einzelne Krankheiten in der Regel doch nicht an einzelnen Genen festmachen lassen. Stattdessen wurde zunehmend klar, dass die Interaktion, also das Zusammenspiel von Genen und ihren Produkten wie RNA und Proteinen das Entscheidende war. Dabei interagiert Gen A und B beispielsweise mit Gen C und das wiederum mit Gen D. Um derartige Strukturen funktional zu verstehen hat man daher als formales Hilfsmittel auf Netzwerke zurückgegriffen, wie sie in der Analyse komplexer Systeme schon lange eingesetzt wurden. Die Idee, dass ein einzelnes Gen mit einer Krankheit korreliert sein könnte, geht daher auf ein stark reduktionistisches, technisch getriebenes, zu simples Weltbild zurück, das sich – aus heutiger Sicht natürlich – als falsch herausgestellt hat. Historisch sind komplexe biologische Systeme ja schon in den 1940er-Jahren als Netzwerke durch Pioniere der Informatik wie Turing, McCulloch und Pitts beschrieben worden. Komplexe biologische Systeme lassen sich daher nur durch komplexe theoretische Modelle beschreiben, und dies ist die Aufgabe der Systembiologie. Insbesondere gilt dies für die medizinische Systembiologie, die humane Krankheiten kausal als fehlgeleitete Netzwerke begreift, die durch komplexe Messungen zu erfassen sind. Systembiologie ist daher sehr komplex und umfasst ein breites Spektrum an Methoden aus Bioinformatik, Mathematik, Hochdurchsatztechnologien, Zellbiologie, aber und auch insbesondere medizinischer Expertise.

In Ihrem Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Systembiologie wenden Sie den systembiologischen Ansatz in der Krebsforschung an und beschäftigen sich mit der quantitativen Analyse von Biomarkern. Welche Ziele verfolgen Sie dabei? Unser Ziel ist es Partnern zu helfen, das Potenzial der Systembiologie in der Erforschung neuer Diagnostika und Therapien besser zu nutzen und unsere aktuellen Forschungsergebnisse in die Praxis zu transferieren. Die Systembiologie basiert stark, aber nicht ausschließlich auf Hochdurchsatzdaten wie beispielsweise durch Sequenzierung. Durch Auswertung dieser Daten ist es möglich, neue Angriffsziele von Tumoren zu identifizieren. Diese sind besonders, da wir sie patientenindividuell bestimmen können: Für verschiedene Patienten einer Tumorart gibt es daher unter Umständen sehr verschiedene optimale Ziele. Diese gilt es zu identifizieren und hierfür dann auch patientenindividuelle Therapien zu entwickeln. Ein anderer Bereich ist die Entwicklung von Computermodellen von bestimmtem Gewebe wie der Haut, wo wir erste Modelle hierzu publiziert haben. Sehr interessant ist die Verbindung von vitro- Modellen aus dem Labor mit der quantitativen Hochdurchsatzanalyse von Biomarkern. Es sind inzwischen recht gute Gewebemodelle beispielsweise der Haut als Forschungstools am Markt verfügbar, die hervorragend eingesetzt werden können, um Wirkstoffe rational und im größeren Durchsatz zu testen. Die Veränderungen, die diese Wirkstoffe hervorrufen, lassen sich dann indirekt durch Veränderungen am morphologischen Erscheinungsbild, zum Beispiel an histologischen Schnitten, erkennen. Hierbei liefern die Hochdurchsatzanalyse histologischer Schnittbilder und deren anschließende Bildverarbeitung systematisch sehr tiefgehende Einsichten.

Wie sieht die Zukunft der Systembiologie aus Ihrer Sicht aus? Welche Herausforderungen wird diese an die Forscher in den nächsten Jahren stellen?

Die Systembiologie macht gegenwärtig nach einer leicht euphorischen Anfangsphase eine Konsolidierung durch, in der sie ihr Anwendungspotenzial zeigen muss. Die Idee ist klar, die weitere Entwicklung sicherlich unverzichtbar. Es entstehen aus heutiger Sicht „ungeheure“ Datenmengen, die aber natürlich in Zukunft erst noch richtig wachsen werden. Wir sehen daher heute nur einen kleinen Anfang dessen, was tatsächlich auf uns zukommt. Meine Prognose ist, dass Universitäten aufgrund der mangelnden Forschungsförderung nicht die organisatorischen und technischen Strukturen aufbauen werden können, um mit diesen Daten systematisch und auf Dauer klar zu kommen. Die industrielle Pharmaforschung existiert aber im Wesentlichen auch nur noch auf dem Papier. Daher werden kleinere Firmen die entsprechende Lücke schließen und entsprechende Technologien aufbauen. Dies wird vermutlich dominant in den USA passieren und wird eine spannende Entwicklung.

Ein weiterer Schwerpunkt Ihres Steinbeis-Unternehmens liegt in dem Bereich „Digitale Pathologie“. Was verbirgt sich dahinter?

Die „Digitale Pathologie“ meint die Transformation der Pathologie, wie diese seit 150 Jahren seit Virchow exisitiert, in eine digitale Disziplin. Durch das Aufkommen von Hochdurchsatz-Scannern können Glas-Objektträger vollautomatisch mikroskopiert werden. Proben von Patientengeweben können so anhand ihrer Schnittbilder als Bilder für eine pathologische Beurteilung verfügbar gemacht werden. In der Radiologie ist digitale Bildgebung bereits klinischer Standard. In der Pathologie ist dem nicht so, hier findet gegenwärtig ein fundamentaler Umbruch statt. Denn im Gegensatz zur Radiologie werden bei der Pathologie zunehmend computergestützte Bildverarbeitungssysteme eingesetzt, die komplexe morphologische Merkmale aus Patientenproben gewinnen und somit den diagnostischen Prozess unterstützen können. In Teilbereichen werden sie Pathologen sogar mit ihrer manuellen Analyse zunehmend ablösen. Wir haben beispielsweise in meiner Forschungsgruppe das erste System zur vollautomatischen Erkennung von Gebärmutterhalskrebs entwickelt auf der Basis von Abstrichen, dem p16 Marker und digitaler Pathologie. Aber dies ist nicht nur in der Diagnostik wichtig, sondern insbesondere auch in der Forschung und in klinischen Zulassungsstudien neuer Wirkstoffe. Im Bereich der systembiologischen Forschung ist die „Digitale Pathologie“ insbesondere hilfreich, um systematisch quantitative Gewebedaten zu erhalten. Die Wirkung von Wirkstoffen objektiv, quantitativ und effektiv nachzuweisen ist nicht nur eine Kostenfrage für die Pharma-Unternehmen, sondern vielmehr auch entscheidend für die Geschwindigkeit, mit der neue Therapien bei zeitkritischen, potentiell tödlichen Erkrankungen wie Krebs den Patienten bereitstehen.

Kontakt

Privatdozent Dr.-Ing. Niels Grabe beschäftigt sich in seinem Steinbeis- Transferzentrum Medizinische Systembiologie am Universitätsklinikum Heidelberg mit der quantitativen Analyse von Biomarkern in der Krebsforschung und der systembiologischen Modellierung pathologischer Prozesse in Geweben sowie mit der digitalen Pathologie.

Privatdozent Dr.-Ing. Niels Grabe
Steinbeis-Transferzentrum Medizinische Systembiologie (Heidelberg)
su1745@stw.de

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